Die alte Eiche

 

Die alte Eiche

Seit hunderten von Jahren stehe ich aufrecht an diesem Platz. Ich sah Menschen kommen und gehen. Deine Ahnen habe ich an mir vorüber ziehen gesehen. Sah auch wie manche als Kinder bei mir spielten, auf mir Baumhäuser errichteten und wie junge Verliebte sich unter mir küssten.

Die Zeit lies sie alle vergehen. Doch ich blieb stehen.

Ich erlebte viel zu oft das Kriegsgeschehen. An meinen Stamm gestützt, hab ich gar einen Menschen sterben sehen und einst wurde ein Kind unter mir begraben, dass so jung dem Leben entwich. Seine Eltern besuchten mich Jahre lang und erinnerten sich in liebevoller Trauer. Irgendwann waren auch sie für immer fort gegangen.

Einige suchten Schutz vor dem Regen unter meinen Ästen. Aus der Ferne sah ich die Menschen bei fröhlichen Festen und lauschte ihrem heiteren Gesang. Ich vernahm wie Tiere an mir knabberten, sich an meinen Früchten labten und wie sie sich hier nieder ließen. Im Frühling spürte ich, die Pflanzen neben mir wachsen und ließ selber von neuem meine Blätter sprießen.

Nun bin ich schon sehr alt geworden. Meine Rinde ist von tiefen Furchen durchzogen. Aber noch immer fließt in mir die Lebenskraft. Meine Wurzeln saugen aus fruchtbarer Erde nährenden Saft. Bald werden meine Blätter fallen und ich ziehe mich zurück in den Winterschlaf. Um mich herum wird alles ruhen und einkehren. Vielleicht wird Schnee meine Äste beschweren und mich sanft umhüllen. Noch einmal werde ich im nächsten Frühling erblühen und ergrünen. Lasse mich von der Natur erfüllen. Noch einmal werde ich ein paar Früchte tragen und alle anderen Bäume um mich herum überragen.

Doch bald kommt auch für mich die Zeit zu gehen. An einigen meiner abgestorbenen Äste kannst du es sehen. Ganz allmählich werde ich mich zurückziehen. Einige Nachkömmlinge habe ich hinterlassen. Vielleicht hat einer das seltene Glück, wie ich über 300 Jahre alt zu werden. Doch leider müssen viele von uns schon früher sterben.

Ich bin wirklich eine Rarität.

Die alte Eiche, die am Feldesrand steht.